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KOMM INS OFFENE!

Wo sind wir, wenn wir Musik hören?

„In sich” zu gehen vermochte er ebenso sehr wie „außer sich” zu geraten: So beschreibt Alfred Brendel das Klavierspiel seines wohl prägendsten Lehrers, des Schweizer Pianisten Edwin Fischer, im Nachwort zu Fischers „Musikalischen Betrachtungen”. In dieser Formel entdecken wir aufs Reduzierteste eine Aussage über das Hören von Musik an sich: Wer hört, ist ganz bei sich, indem er bei einem Anderen ist.

Wenn wir hören, erfahren wir uns neu und werden uns selbst transparent; wir sind ganz bei uns, indem wir außer uns sind. Wir erfahren das Innen als Außen – der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, in einer eigentümlichen Fortführung der Gedanken Sigmund Freuds, pflegte zu sagen: Das Unbewusste ist außen – und wir bekommen nur auf diese Weise eine Wahrheit über uns selbst mitgeteilt: Wer wir sind, oder zu sein meinen, ist bestimmt durch ein Gegeben-Sein von einem Du. Dieses Du ist keine distanzierte, richtende Instanz, sondern es entfaltet sich als leibhaft spürbare, ganz und gar in der Welt verankerte Ur-Blüte immer wieder neu, wann immer echte – Begegnung stattfindet.

Welch ein Geschenk!

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Wo sind wir, wenn wir Musik hören?

Wer wir sind, sind wir immer durch andere: „Der Mensch, der stolze Mensch, verkennt, was ihm am nächsten ist - seine Spiegelseele...“ (1) Die Musik ist wie ein Speer, der unserer Ego-Zentriertheit des Alltags eine Wunde zufügt und selbst zugleich am stärksten in der Lage ist, sie zu heilen. Als hörende Menschen betreten wir einen Seinsraum, der uns mit offenen Armen empfängt, von uns selbst wegführt, unserem Narzissmus sanft jede Nahrung entzieht. „Erkenne dich selbst”, lautete die Inschrift am Apollotempel von Delphi, versuche das ruhig, aber betreibe keine beschauliche Nabelschau, sondern pflege den Umgang mit der Weite, gehe den Umweg über die Welt, denn „das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.” (2)

Der Philosoph Byung-Chul Han umkreist in seinen Werken eine zentrale Beobachtung, die er als „Austreibung des Anderen“ charakterisiert: die zeitgenössische Unfähigkeit, sich dem Anderen zu öffnen, die Unwilligkeit, das vermeintlich Eigene preiszugeben und auf diese Weise sich doch erst zu finden. Sie findet ihren Niederschlag in uns Menschen der Gegenwart, die wir von Musik vor allem Erholung für unsere tragisch-überspannten Egos erhoffen, wir, die wir, ausgeliefert dem binären Denken unserer digitalen Gottheiten, eine Erwartungshaltung kultivieren, deren Resultat nicht mehr als aktives, offenes, freies, spontanes, selbsttätiges, kreatives Hören und Zuhören bezeichnet werden kann. Der überzeugte Pazifist Ernst Bloch verfasste vor mehr als 100 Jahren unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges sein Erstlingswerk „Geist der Utopie“. Darin eröffnet er den Abschnitt über die Philosophie der Musik mit der folgenden Feststellung: „Wir hören uns nur selber. Denn wir werden allmählich blind für das um uns herum.“ (3)

Nachdenklich stimmt uns diese Beobachtung, denn sie stimmt heute noch; zynisch würden wir, fänden wir uns damit ab.

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Wo sind wir, wenn wir Musik hören?

Es scheint in der Musik, der „Zweideutigkeit als System” (4), selbst eine Tendenz zu geben, das Andere zu sich zu suchen und zu bejahen, um so zu einem vollständigeren Bild der Wahrheit zu kommen, die immer nur Fragment ist. Traumwandelnd spricht der Schriftsteller Martin Walser beiseite: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr!“ Wir vernehmen sein Echo und wollen daraus alle Konsequenzen ziehen.

Wir wollen die Ruhe in der Bewegung suchen, das Dionysische im Apollinischen, die Zukunft im Vergangenen, das Eigene im Fremden, das Weltliche im Geistigen, das Hohe im Niedrigen, das Heitere im Tragischen, das Politische im Unpolitischen, das Prozesshafte im Bleibenden, den Humor im Erhabenen, das Göttliche im Menschlichen und das Menschliche im Göttlichen, den Namen im Unbenannten, „womit ihr Meister sie segnet und verdammt, in welche Nächte und Überhelligkeiten, Kristallsphären worin Kälte und Hitze, Ruhe und Ekstase ein und dasselbe sind, er sie stürzt und erhebt, das mag man wohl weitläufig, wohl wundersam, fremd und exzessiv großartig nennen, ohne es doch damit namhaft zu machen, weil es recht eigentlich namenlos ist“ (4), denn nur so, hinter dieser Überzeugung stehen wir mit Leidenschaft, nur so bleiben wir menschlich.

Der Ruf der Kunst kennt keinen Kompromiss, keinen doppelten Boden, keine Trennung in Ich und Es, keine Erfahrung des Einzelnen. „Du sollst dir kein Bild machen”, wie es im Alten Testament heißt, nein, das darfst du auch heute nicht, lebe und lerne in der Spannung zu atmen! Nur das Ganze unserer eigenen widersprüchlichen Menschlichkeit wird uns retten.

„Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden; wer sich drangibt, darf von sich nichts vorenthalten; und das Werk duldet nicht, daß ich in der Entspannung der Es-Welt einkehre, sondern es waltet: – diene ich ihm nicht recht, so zerbricht es, oder es zerbricht mich. Die Gestalt, die mir entgegentritt, kann ich nicht erfahren und nicht beschreiben; nur verwirklichen kann ich sie. Und doch schaue ich sie, im Glanz des Gegenüber strahlend, klarer als alle Klarheit der erfahrenen Welt. Nicht als ein Ding unter den “inneren” Dingen, nicht als ein Gebild der “Einbildung”, sondern als das Gegenwärtige. Und wirkliche Beziehung ist es, darin ich zu ihr stehe: sie wirkt an mir wie ich an ihr wirke.” (5)

Wo sind wir, wenn wir Musik hören? – An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, bei einem anderen Menschen, ganz und ausschließlich, und deshalb und dadurch bei uns.

Wir dürfen gespannt sein, wohin uns das einmal tragen wird.

(1) Shakespare, Maß für Maß.

(2) Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater.

(3) Ernst Bloch, Geist der Utopie.

(4) Thomas Mann, Doktor Faustus.

(5) Martin Buber, Ich und Du. 

(6) Der Titel „Komm ins Freie!” ist an Friedrich Hölderlins Elegie „Der Gang aufs Land” angelehnt; das Leitmotiv „wo sind wir, wenn wir Musik hören?” ist der Formulierung nach einem Vortrag Peter Sloterdijks entnommen.